Reportage vom Amur
 

     Flusskilometer 929. Durch die Luft schwirren 130 aufgeregte Kinderstimmen, Betreuer sammeln ihre Gruppen, Eltern rufen AbschiedsgrĂŒĂŸe und Ermahnungen: Ein Ferienlager geht an Bord der "Wassilij Pojarkow". Solches GedrĂ€nge erlebt der Retschnoj Woksal, der "Flussbahnhof", der Stadt Chabarowsk im Fernen Osten Russlands nur selten. Meist liegt das alte HolzgebĂ€ude verlassen auf seinem Ponton an der MĂŒndung des Ussuri in den Amur.
 
HafengebĂ€ude in Chabarowsk: “Meist verlassen auf seinem
Ponton”

     KapitĂ€n Wiktor Petrowitsch gibt den Befehl zum Ablegen. FrĂŒher spielte dazu eine Blaskapelle am Ufer auf, jetzt legt der Funker eine Kassette ein. Marschmusik aus blechernen Schiffslautsprechern ĂŒbertönt fĂŒr einige Minuten die Stimmen der ĂŒber die Decks quirlenden Kinder. Touristen, die jetzt ruhig winkend an der Reling stĂŒnden, hat die "Wassilij Pojarkow" schon lange nicht mehr an Bord genommen. 7500 Rubel fĂŒr die mehrtĂ€gige Passage, mehr als drei MonatsgehĂ€lter einer Lehrerin oder eines Ingenieurs also, sind einfach zuviel fĂŒr die meisten Russen. ZahlungskrĂ€ftige AuslĂ€nder kommen so gut wie nie in diese vergessene Gegend acht Flugstunden östlich von Moskau.

      Ăœber 3000 Kilometer hat der Amur, von Westen kommend, bereits hinter sich gelassen. Die meiste Zeit seines Weges ist er Grenzfluss, trennt Russland und China. An dieser Stelle nimmt er einen weiten Bogen nach Norden, auf den letzten tausend Kilometern zum Pazifik sind beide seiner sumpfigen, weit ausladenden Ufer russisch. Die "Wassilij Pojarkow" befĂ€hrt als eines der letzten beiden Passagierschiffe den Unterlauf zwischen Chabarowsk an der chinesischen Grenze und seiner MĂŒndung bei Nikolajewsk-na-Amure.

      "Rabotniki restorana priglaschajut perwuju smenu na obed" - "Die Arbeiter des Restaurants laden die erste Schicht zum Mittagessen" -, ertönt die Stimme des diensthabenden Offiziers durch das Mikrofon. Die Kinder erstĂŒrmen mit ihren Betreuern die SpeisesĂ€le. Danach ist Mittagsruhe. WĂ€hrend die minderjĂ€hrigen Passagiere in ihren KajĂŒten liegen, gerĂ€t die "Wassilij Pojarkow" in ein schweres Gewitter. Die Ufer des hier mehrere Kilometer breiten Hauptstromes sind im Regen kaum mehr zu erkennen. Auf der BrĂŒcke wird es hektisch. Mit FernglĂ€sern suchen die MĂ€nner das Wasser nach Bojen und Navigationszeichen ab, die den Weg der Fahrrinne zwischen SandbĂ€nken und Untiefen markieren. Die Lichter der Leuchtbojen sind seit Jahren erloschen und niemand repariert sie.

      Der Blick des KapitĂ€ns wechselt zwischen dem grĂŒnlichen Radarschirm, der Echolotanzeige und seinen Flusskarten. Die stimmen lĂ€ngst nicht mehr, sind seit Jahren nicht amtlich aktualisiert worden. Der launische Fluss verĂ€ndert sich stĂ€ndig, Inseln verschwinden oder entstehen, Fahrrinnen versanden. Also mĂŒssen die MĂ€nner der "Pojarkow" ihre Karten selbst korrigieren. Die Namen sĂ€mtlicher Freunde und Verwandter habe er schon fĂŒr neue Inseln vergeben, sagt der KapitĂ€n, langsam fallen ihm keine mehr ein.

      Abendlicher Schichtwechsel auf der BrĂŒcke. In Reih und Glied treten die Matrosen und Schiffsjungen auf der BrĂŒcke an. Der KapitĂ€n mustert die Reihe, lĂ€sst sich vom Stand der Arbeiten berichten und erteilt neuerliche Anweisungen. Das Schiff will instand gehalten sein, entrostet, gestrichen, geputzt werden. Viele Stunden verbringen die Matrosen an Deck, kratzen und schaben mit Glasscherben den alten Lack vom Holzbelag der Reling, um ihn anschließend frisch versiegeln zu können. Was wie BeschĂ€ftigungstherapie anmuten mag, ist reine Überlebensnotwendigkeit: Die Frauen und MĂ€nner der Besatzung leben auf dem Schiff und leben von ihm.

      Nachts will man wegen der fehlenden Leuchtbojen nicht fahren, also wirft man Anker mitten auf dem Fluss. Wenige Minuten spĂ€ter stehen der KapitĂ€n und drei seiner Offiziere am Heck der "Pojarkow", wo ein kleines Motorboot zu Wasser gelassen wird. Die MĂ€nner wollen mal wieder zum Fischen. In einem Nebenarm legen sie Netze aus, die sie im Morgengrauen wieder herein holen - leer.

      Flusskilometer 569. "Eto perestrojka!" - "Das ist die Umgestaltung!" ruft Wiktor Petrowitsch ĂŒber die BrĂŒcke. KopfschĂŒttelnd blickt der erfahrene AmurkapitĂ€n auf die verfallenen Hafenanlagen von Komsomolsk, der Stadt der Jugend. Warum musste ausgerechnet die Amur-Schifffahrt privatisiert werden? Die Eisenbahn, die die einstige Industriestadt mit dem Vorderland verbindet, sei schließlich auch nicht privatisiert. Dabei wĂ€re der Transport auf dem Fluss mit nur sechs Kopeken, etwa einem halben Pfennig, pro Tonne und Kilometer unschlagbar billig. Wegen der Privatisierung habe man mehr als die HĂ€lfte aller Schiffe verschrotten oder verkaufen mĂŒssen. Das ferne Moskau erhebt hohe Steuern fĂŒr jedes Schiff, die man nicht erwirtschaften kann.

      Seine "Wassilij Pojarkow" hat Wiktor Petrowitsch gerade noch vor dem Trennschleifer retten können, indem er das Ausbleiben der Touristen mit schwimmenden Kinderferienlagern ausglich. Die gelten als soziale Einrichtungen, das mildert Moskaus Steuerbegehrlichkeiten.

      Flusskilometer 461. Die letzte grĂ¶ĂŸere Stadt liegt gut hundert Kilometer zurĂŒck. Jetzt kann man ungestört abends beim KapitĂ€n zusammen kommen, gebackenen Fisch essen und den unvermeidlichen Wodka trinken - mit einer der sonst ĂŒblichen Kontrollen ist nicht mehr zu rechnen. Der KapitĂ€n schenkt ein, prostet dem bĂ€rtigen Namenspatron seines Schiffes zu, der von einem alten ÖlgemĂ€lde in die Runde blickt: "Sa Ljubow!" - "Auf die Liebe!" Neben ihm sitzt seine Freundin Natascha. Zu Hause hat sie einen arbeitslosen Mann und zwei Kinder. Um alle drei ernĂ€hren zu können, arbeitet Natascha den ganzen Sommer ĂŒber ohne Unterbrechung auf dem Schiff, kocht, wĂ€scht ab, putzt - und liebt den KapitĂ€n. Zwölf Stunden schuftet sie tĂ€glich. Das reicht eben, um Wohnung und Essen bezahlen zu können. Doch wie lange es den Job auf dem Schiff noch geben wird, weiß nicht mal ihr KapitĂ€n.

      "Ich bin Kommunist!", ruft der trotzig. Wie zum Beweis holt er ein altes Lenin-Buch aus dem Schreibtisch und zitiert: "Kommunisten wird man immer auf die schwersten Posten stellen, wo der Kampf am hĂ€rtesten ist." Sein Posten ist auf der BrĂŒcke der "Pojarkow". Ein Leben lang hat er den Fluss befahren, etwas anderes ist fĂŒr den schnauzbĂ€rtigen Kosakensohn undenkbar.

      Was aber tun den Rest der Saison, wenn die Ferien vorbei sind? Und wird es im nĂ€chsten Jahr wieder Ferienlager geben? Mit diesen Fragen dreht Walerij Wassiljewitsch, der Erste Offizier, sein leeres Wodkaglas in den HĂ€nden, als suche er darin eine Antwort: "Vielleicht sollte ich mich freiwillig in den nĂ€chstbesten Krieg melden. Da weiß ich, was mich erwartet - ich war schon in Afghanistan."

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